An die Wand gesprüht

Uschiki Kuri kann auch Kutsche

 

 

Warum

... ich von gläsernen Schuhen fasziniert bin.

Anlass

Der Herbst mit seinen fröhlich bunten Kürbissen.

„Uschiki Kuri“, „Sweet Dumpling“ und „Jack Be Little“, um nur einige herrschaftliche Namen ins Spiel zu bringen, sind direkte Abkömmlinge der „Cucurbita“-Dynastie. Ein kosmopolitischer Clan, der die Welt umsegelte, dabei geerdet, unaufgeregt und sympathisch blieb. Mitglieder der Sippe sind als Heiler in die Geschichte eingegangen, einige waren eine Zeit lang sogar heilig, bereits die Azteken knieten bewundernd vor ihnen. Jenseits ihrer geschichtlichen Bedeutung wärmen sie bis heute den Menschen Leib und Seele, denn die Kulinarik in den Küchen der Welt haben sie sich erobert!
Hokkaidokürbis

Die Familie ist gezeichneten Außenseitern gegenüber ausgesprochen tolerant, denn auch die „Krummen“, „Gestauchten“ oder „Warzigen“ sind geschätzte Verwandte. Ich gebe den Kürbissen heute die Ehre und stelle sie vor. Meine erste Bekanntschaft entstand aus Zufall. Als Kind stand ich ungläubig vor unserem Komposthaufen, auf dem aus dem Nichts heraus die bauchigen Gebilde wuchsen. Man schätzte sie damals nicht, mir waren sie nicht vertraut, jedoch zogen sie mich in ihren Bann, während ich ihnen beim Wachsen zusah. Naturverbunden, wie ich war, und in die Arbeit des Gärtnerns von früh an einbezogen, stellte ich mich täglich vor die kugeligen Wesen hin und staunte darüber, mit welcher Geschwindigkeit sie sich aufblähten. Niemand wusste, woher sie kamen, denn ausgesät hatte sie die Mutter nicht. Vor meinem inneren Auge und in der Fantasie jedoch wuchsen nicht einfach Kürbisse, sondern die Kutsche von Aschenputtel, die sie an drei Abenden in Folge zum Ball des Prinzen brachte, und knapp vor Mitternacht von dort wieder zurück: Die Ermahnung zur Wirkung des Zaubers versprach nichts Gutes: „Gib acht, bis Mitternacht!“ In einer von vielen Verfilmungen reiste Cinderella nicht in der Kürbiskutsche, sondern ritt auf einem Schimmel, um sodann abrupt auf der Erde zu landen, denn das Pferd, auf dem sie ritt, verwandelte sich Schlag zwölf zurück zur Maus.

Butternut-Kürbis

Geschichte ohne Copyright

Meine Gedanken drehten sich damals allein um den Zauber des schließlich bestens sich fügenden Schicksals und keineswegs um die im historischen Hintergrund ablaufenden Auslegungen darüber, wer denn der Erste war, der „Cinderella“ oder „Aschenputtel“ erfunden hatte. Mir war es gleichgültig, ob die Gebrüder Grimm etwa von Charles Perrault abgekupfert oder einfach nur Geschichten gesammelt hatten, denn die Gebrüder waren ein wesentlicher und bedeutender Teil meiner Kindheit. Ob es, wie in Verfilmungen nun eine oder zwei böse Stiefschwestern gab, trieb mich nicht sonderlich um, denn eines von den kruden Weibern war mir schon genug! Ich verfügte nicht über die Tugend mädchenhaften Gehorchens, und ich hätte eine – oder beide – höchstwahrscheinlich erschlagen, in einen Brunnen geschubst oder mir wäre eine intelligentere Art der Eliminierung eingefallen.

Ein Kürbis wird zur Kutsche (aus: Walt Disney, Cinderella)

Ob die Ballroben von hilfreichen, ein munteres Lied singenden Vöglein, wie bei Disney, geschneidert worden waren und das goldblonde Puttel mit glockenheller Stimme ihren herzallerliebsten Song „Ich hab ihn im Traum gesehen“ schmetterte, oder ob das vom Vater mitgebrachte Reisig, das zwischenzeitlich ein Baum geworden war, sich „rüttelte und schüttelte“ und Gold und Silber über das Puttel warf, das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Denn aus der aschgrauen Magd wurde im Handumdrehen eine strahlende Prinzessin, ein Traum der nicht nur Mädchenaugen, sondern auch Hollywood-Magnaten die Freudentränen in die Augen trieb. Den gläsernen Schuh stellte ich nie infrage, die abgehackten Zehen oder Fersen mochte ich nicht. Die Täubchen brachten die Wahrheit ans Licht: „Ruckediguh, Blut ist im Schuh. Der Schuh ist zu klein. Die rechte Braut, sitzt noch daheim!“. Später dann, nach weiteren Anproben gurrten die Täubchen, „Die rechte Braut, die führt er heim!“ Dank für Gerechtigkeit auf Erden, eine schöne Kindheit, die Gebrüder Grimm und meinem unermüdlich vorlesenden Vater!

Kürbis auf Rädern

Ob er sich zur Kutsche verwandelt oder nicht, sollte man dem Kürbis Beachtung schenken, denn auch ohne, dass er zum Gefährt mutiert, hat er vieles zu bieten. Der Sommerkürbis gibt sich dabei etwas dünnhäutiger als der herbstliche Verwandte, schließlich ist er auch nicht solch extremen äußeren Einflüssen ausgesetzt. Kurioserweise gilt der Kürbis allenthalben als Gemüse, dabei ist er eigentlich eine Beere, genau gesagt eine „Panzerbeere“. Der Begriff kommt zustande, weil diese Früchte sich mit einer mehr oder weniger dicken Haut schützen, einige gar legen zudem eine äußerst wetterbeständige Wachsschicht über die Haut. Einen solchen hätte ich als Cinderella für meine Stelldicheins gewählt, damit Robe und Frisur bestmöglich in Takt blieben. Einigen der Kürbis-Panzerbeeren ist mühsam beizukommen. Es soll Leute geben, die Angst haben, es mit ihnen aufzunehmen 😮!

Pumpkin Spreader

Über den ganzen Erdball hat er sich verbreitet, nachdem er erstmals beinahe 10.000 Jahre vor Christi Geburt registriert wurde. An die 200 Sorten kann man verspeisen. Die restlichen 600 schaut man lieber nur an oder übt sich im Schnitzen an ihnen, denn sie sind im besten Falle bitter und schlecht verdaulich, im schlimmsten Fall giftig! Unter den schwer zu tolerierenden finden sich nach meiner Fantasie „Anastasia und Drizella“ die nichtsnutzigen und bösen Stiefschwestern, die Aschenputtel findig quälen, denen sie jedoch zum Schluss verzeiht. Auch diese unansehnlichen Geschöpfe fanden schließlich männlichen Beistand, der ihnen womöglich dabei half, sich weiter zu verbreiten.

Kürbis und Herbstblatt
Hokkaidoverkauf

Bei seiner Verbreitung über die Kontinente brauchte der Kürbis an sich keine Unterstützung, denn er hatte einen äußerst findigen Plan, der ihn unabhängig machte. Er legte sich so lange in die Sonne, bis er dehydriert und federleicht war. Sodann machten sich die Kugeln mit der kernigen Fracht zu Wasser auf den Weg und setzten von Afrika nach Südamerika über. Das Salzwasser setzte ihnen dabei zu, Wind und Wellen waren auch keine leichten Gegner. Doch überstanden die Riesenbeeren die Seereise und verbreiteten sich, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, unbeirrt rasend schnell. Ihr Erfolgsgeheimnis begründet sich sicherlich darin, dass sie weder heikel noch wählerisch sind. Sie kommen praktisch mit allen Böden und Lebensumständen zurecht. Die Kämpfernaturen nehmen es mit sandigen Böden, fetten Böden, Trockenzonen, Regengebieten, Flussufern, Berghängen, Tiefebenen und Höhenlagen gleichermaßen auf. Unerschrocken und wacker haben sie sich durchgeschlagen. Azteken und Indianer verehrten den Kürbis als Heilpflanze und sprachen ihn heilig! Schließlich brachten ihn die Eroberer in großer Zahl in ihren Schiffsbäuchen auf unseren Kontinent.

Unsexy auf Kompost

Kürbisreste

Der Kürbis erfreute sich jahrhundertelang größter Beliebtheit. Bis er dann in den Zeiten des Aufschwungs als banales Gewächs verschmäht und der Küchen verwiesen wurde, auf Komposthaufen herumdümpelte und um das nackte Überleben kämpfte. „Zu gewöhnlich, zu langweilig und überhaupt: Null sexy, keine Spur Erotik, kein Hauch Exotik.“ Ende der Vorstellung! In meiner Kindheit erinnerte man sich zwar noch an die stattlichen Geschöpfe, auf den Tisch kamen sie allerdings nur selten. Die Großeltern schenkten ihm ein wenig Beachtung, allerdings sehr eindimensional. Sie legten den Kürbis süßsauer ein und aßen ihn am Abend zu belegten Broten. Ich mochte diese blässlich orangenen Würfelchen nicht, weil ich fand, dass sie medizinisch schmeckten, und so knackig wie Gürkchen waren sie auch nicht!

Halloween-Kürbis

Irgendwann Ende des letzten Jahrhunderts schwappte der Speise-Kürbis erneut über den Teich zu uns, im Schlepptau phantasievolles, kommerzorientiertes Gewese um Halloween. Allmählich kam es in Mode, ausgehöhlte und zurechtgeschnitzte Kürbisköpfe von überdimensionalem Ausmaß in der dunklen Jahreszeit mit Kerzen bestückt ins Fenster oder vor die Haustür zu stellen. Was sollte man als Kind mir reger Fantasie von den wilden Gesellen halten? Manche verzogen die Mundwinkel nach oben, was eine Art Lächeln bedeuten konnte, bei anderen war üble Laune unverkennbar. Angsteinflößend fand ich jene Exemplare, die mit burgzinnenartigen Zähnen leeren Blickes vor sich hin grinsten. Erschreckend geradezu, wenn man um die Ecke bog und nicht damit gerechnet hatte, dass sie einem auflauern! Sie waren mir allesamt nicht geheuer, konnte man schließlich nicht sicher abschätzen, was sie im Schilde führten! Aus aktuellem Anlass hier eine Exkursion zu (aber)witzig ausufernden Aktivitäten findiger bis profitversessener, im Internet herumstromernder Zeitgenossen! Passend zum bevorstehenden Fest der Rübengeister wurde mir heute ein „Kürbis-Schnitz-Set“ angeboten. Inhalt: ein Winkelmesser für eckige Formen (etwa besagte Zinnen?), ein scharfer Löffel zum Aushöhlen und eine Säge für weitere Öffnungen und Schnitte. Reduziert von 29,90 Euro auf 24,90 Euro, ein Schnäppchen also. Wer „en vogue“ sein will, und den Zeitgeist kompromisslos pflegt, beschafft sich das Set und schreitet beherzt zur Tat 😱!

Kürbis-Mania

Frisch gepresster Kürbissaft

Für den Kommerz um seine Person kann der Kürbis allerdings nichts, und ich bin der Meinung, dass die Kürbisse an sich ihren kulinarischen Siegeszug durchaus verdient angetreten haben. Ihre Erfolgstendenz ist steigend, Kochhefte der Provenienz „Supermarkt-Kasse“ bis hin zum „Feinschmecker“ widmen ihnen den Titel. „Kürbis-Mania“ scheint nicht ausgeschlossen, denn er hat hohes Potenzial! Der geneigte Koch kann seine Kreativität haltlos ausleben 🙄😘. Eingeleitet wurde der kulinarische Aufstieg mit dem im Herbst obligatorischen Kürbissüppchen, das man inzwischen auf beinahe allen Speisekarten der Republik findet. Zurecht, denn es hat die Verwandlungskunst der Riesenbeere geerbt! Paart sich problemlos mit Kräftigem, wie Speck und Räucheraromen. Hegt ein schmeichlerisches Verhältnis zu Wurzelgemüse, mit der Möhre ist es ganz eng. Es beherrscht jedoch auch den feinen Auftritt als elegantes Crème-Süppchen im Duo mit Jakobsmuschel oder edlem Weißfisch. Mit Sahne und Sauercrème kooperiert es außerordentlich geschickt. Der Kürbis kann salzig, süß, flüssig, geschmort, gebacken und durchaus auch roh! Seit ich Letzteres weiß, ist er morgendlicher Gast in unserer Küche, passiert neben Fenchel, Sellerie, Roter Bete, Äpfeln und Ingwer den ächzenden Entsafter und darf als „Kraftbooster“ ins Glas.

Der Kürbis hat sich einen festen Platz in meinem Leben erobert. Ich mag ihn leiden. Er verzaubert mich kulinarisch, ich bewundere seine Robustheit und Wandlungsfähigkeit, und wer weiß, vielleicht spanne ich ja eines Tages sechs Schimmel vor meine Kürbiskutsche und lasse mich – wenn es eng kommt – in eine schönere Welt kutschieren! Meinen Prinzen allerdings, muss ich mir nicht erst suchen, der hat einen festen Platz in meinem Leben und kommt mit!

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