An die Wand gesprüht
Grat-Fahrt
... vorwärts nicht immer „mehr” ist.
Eine schwierige Zeit und die Erinnerung an stille Stunden.
Im Tal leuchteten Mitte März die Frühlingsblüher, Schnee gab es unten keinen mehr. Als wir uns nach oben „geschraubt “ hatten, waren wir sehr hoch oben angekommen und mitten im Schnee: Weltwandel. Nachdem wir, zahlreiche Streusiedlungen passierend, das „Dörfchen“ mit der kleinen Kirche und dem akkuraten Türmchen erreicht hatten, querten wir es und fuhren hinten wieder hinaus, noch höher in Richtung Rätikon-Rücken. Freunde hatten den Aufenthalt auf einem Hof für uns klar gemacht und gesagt, er liege „etwas abseits“ und schön ruhig. In der Tat, denn die Straße hinter dem Gehöft war dort zu Ende.
Der schwungvolle Prinz
Stetig war es den Berg hinaufgegangen, schmaler wurden die Straßen, kurvig und abschüssig am rechten Straßenrand. Ich musste meinem rebellierenden Magen pausenlos gut zureden. Davos und Klosters lagen längstens hinter, besser gesagt, unter uns. Vorbei fuhren wir an Pisten, die Charles, „Prince of Wales“, seit vielen Jahren im perfekten Parallelschwung hinunterwedelt. Wahrscheinlich wandelt er auf den Fährten des großen Geschichtenschreibers Sir Arthur Conan Doyle. Er ist aufgrund der Erzählung einer Skitour von Davos hinüber über den Grat nach Arosa – natürlich in als unverwüstlich geltenden Tweed-Knickerbockern – als Initiator des Skitourismus in die Geschichte eingegangen. Er wanderte in dem entlegenen Gebiet irgendwo zwischen „Madrisa“ und „Montafon“. Irgendwo liegt auch unser Dörfchen mit dem spitzigen Kirchturm. Wo genau es liegt, ich vermag es nicht exakt zu beschreiben, denn mit der Orientierung habe ich es so überhaupt nicht!
Mit der Fantasie jedoch habe ich es, und schöne, plakative Gedanken während der Anreise waren nützlich und zweckdienlich mich abzulenken, denn stets schienen die steilen, leitplankenlosen Abhänge Richtung Tal auf der Beifahrerseite zu liegen. Nur geradeaus schauen, irgendwann werden wir ja oben sein. Waren wir auch, aber es hat gedauert! Es ging mir nicht aus dem Kopf, dass wir da ja auch wieder runter müssten.
Es dämmerte schon, zunächst sah man den Hof nicht und es schien, als würde der Weg ins Nichts verlaufen. Weit und breit kein Platz zum Wenden. Der Autopilot fiel in Individual-Betrieb zurück. „Oh My God!“ Der Liebste bewahrte die Ruhe, und als wir vor dem Hof ankamen, sagte er cool: „Na siehst du!“ 😌
Absturz im Daunenbett
Die Freunde, mit denen wir uns oben in dem kleinen Dörfchen am Rätikon-Grat treffen werden, kommen schon seit Jahrzehnten hierher, und zwar völlig bedenkenlos. Ich entschließe mich für die nächsten vierzehn Tage zur Gelassenheit und schalte meinen Autopiloten um auf „Einkehr halten“. Einkehrschwung vollziehen im bestmöglichen Sinne des Wortes. Aber so ganz bekomme ich den Absturz-Albtraum nicht aus dem Kopf. Manchmal spukt er auch nächtens darin herum, und ich kralle mich haltsuchend in den mächtigen Daunenbetten fest. Als wir am Ende des Urlaubs wieder unten ankamen, dachte ich, es ist, wie so oft: Man macht sich viel zu viel Gedanken. So viel hatte ich talwärts nicht zu leiden, denn diesmal saß ich auf der „sicheren“ Seite. Ach, das Kopfkino! Mal ist es hilfreich, mal plagt es einen. Wohl demjenigen, der weiß, wann er darauf hören und wann er den Schalter besser auf „stumm“ drehen sollte.
Plaudern hoch droben
Nun waren wir also angekommen und mit einem kehlig-schrillen „Challooh. Gruetzii!“ begrüßte uns die liebenswert wirre Großmutter. Täglich kontaktierte sie uns mehrfach überschwänglich auf diese Weise, auch als wir uns am nächsten Morgen bei herrlichem Wetter zur ersten Schneewanderung aufmachten.
Wie sich noch zeigen würde, war die alte Dame recht anhänglich. Die einzige Gästewohnung weit und breit im kleinen Weiler bewohnten wir, unsere Freunde wohnten unten, mitten im Dörfli gegenüber der Gaststätte „Weißes Kreuz“. Wir waren in unserem Domizil offenbar eine willkommene Abwechslung für Unterhaltung am gefühlten Ende der Zivilisation. Die alte Frau war sehr freundlich aber „spooky“. Manchmal dachte ich, sie lauert uns auf. Wie sonst war es möglich, dass wir den Flur einfach nicht passieren konnten, ohne von ihr abgepasst zu werden. Des Nachts gab sie häufig lautstark wirres Zeug von sich, hielt dabei jedoch nie lange durch, und so gewöhnten wir uns an die Intermezzi. Einmal allerdings wurden wir von grellem Licht und lautem Stimmengewirr aus unseren Träumen gerissen. Ich sprang alarmiert aus dem Bett und zog mir sofort den Ski-Anzug und die Boots über. Möglicherweise brannte es ja irgendwo, und wir würden evakuiert werden müssen! Abseits der Zivilisation schlichen sich meine Gedanken in Richtung „Absurdistan“. So niedlich war des Morgens die Auflösung für das nächtliche Treiben: Ein bunt geflecktes Kälbchen mit xl-Wimpern war zur Welt gekommen!
Tagsüber machten wir ausgiebige Wanderungen in der fast unberührten Natur. Vierzehn Tage lang hatten wir Sonne. Das Wetter war traumhaft, und die Landschaft in ihrer absoluten Stille war berührend unberührt. Überall gab es urige Gasthäuser mit so schönen Namen wie „Berggasthaus Gemsli“ oder „Berghaus Alpenrösli“ mit einfacher, jedoch feiner Küche. Mein Lieblingsgericht war eindeutig mit Bergkäse gratinierter „Röschdi“, golden und knusprig. Danach ein „Chrüter“, das Schnäpsli zur Verdauung und allemal zur beschwingten Laune! So ging es in fast übermütiger Stimmung durch den jungfräulichen Schnee ringsum wieder zurück zum Gehöft.
Im Tiefflug
Ab und an flog ein Tiefschneefahrer auf den ungepflügten Pisten neben dem schmalen Gehweg oder den haarscharf gefrästen Loipen an uns vorbei. Mit metallischem „Sch h, Sch h, Sch h“ schlängelten sie sich mit gekonnt austarierten Schwüngen an uns vorbei, hinter sich herziehend glitzernde Schneekristall-Wolken. Selbst vom etwas durchgesessenen Diwan in unserer guten Stube, eine heiße Schokolade schlürfend, über den muhenden Kühen im Stall unter uns, sahen wir sie durch das Fenster am direkt gegenüber liegenden Abhang schneidig vorbeifahren, im ganz eigenen Rhythmus, einer Choreografie gleichend. Kaum je über einen passablen Parallelschwung hinausgekommen, fand ich diese Darbietungen mehr als beachtlich.
Abends wollten wir ein gutes Essen und Geselligkeit. Der Kuhstall und die Großmutter waren uns nicht Unterhaltung genug. Also mussten wir uns ins eine halbe Stunde Fußweg unter uns liegende „Dörfli“ aufmachen. Abwechselnd speisten wir dort in drei Herbergen: Zwei bescheidene, sehr urige mit dunklen Schindeln außen und dunklem Holz im Inneren. In der „besseren“ Herberge soll Prinz Charles des Öfteren zu Besuch gewesen sein. Die Beweisfotos an der Wand bestätigen das nicht ohne Stolz der Gastgeber. An den Stammtischen fanden, auch ohne royale Anwesende, laute Diskussionen statt, die wir leider nicht verstehen konnten. Der alemannische Bündner Dialekt ist uns ein Buch mit sieben Siegeln und geht schwer in den hochdeutschen Gehörgang. Allein die anschwellende Leidenschaft nach dem einen oder anderen „Schnäpsli“ teilte sich mit.
Schweigendes Dunkel
Nachhause geht es die ganze Strecke, die wir erwartungsfroh hinunterliefen, nun bergauf. Diesmal die Beine etwas schwerer wegen der Käseröschdi und dem Chrüter 🙄. Wie praktisch, dass wir immer wieder stehen bleiben konnten, um den unfassbar schönen Nachthimmel zu bestaunen. Der Weg war stockdunkel und schwarz der Himmel. Die unzähligen Sterne in den wolkenlosen Nächten glitzerten hingegen wie Diamanten. Noch nie hatten wir ein solch schweigsames und doch grandioses Spektakel vor Augen.
Eine Dosis Ruhe
Zwei Wochen lang Stille, Abgeschiedenheit und eine – beinahe Überdosis – unberührter Natur. Ohne Fernsehen, ohne Handy. Aus dem alten Transistorradio hörten wir kratzend die Morgensendung, die „Grischaer Lätterli“ oder so ähnlich hieß. Ich lernte, dass „gsi“ „gewesen“ heißt und noch ein paar andere Vokabeln. Ob ich die gutturalen „rr“-, „ii“- und „ää“-laschtigen Wörter je geschmeidig und einlullend finden werde, wie ich das bei anderen Sprachen tue, weiß ich nicht. Und der Himmel, die Weite die Stille, so schön sie auch waren, bewirkten doch nach der ersten Woche bereits eine gewisse Sättigung. Zu viel Information nervt. Wird sie jedoch dürftig, lässt sie mich ratlos zurück, denn das bin ich nicht gewohnt und fühle mich abgehängt. Auf die Dosis kommt es an, resümiere ich, doch wie bestimme ich die? Im Alltag regele ich die Informationsdichte von Nachrichten über Mails und das Handy. Das sollte genügen, um über das Wichtigste informiert zu sein. Und doch ist es oft zu viel an so genannten wichtigen Infos.
Auf Grund gelaufen
Zwei Wochen war nichts passiert und doch viel geschehen, in mir und um mich herum. Bei einsetzendem Tauwetter war der Schnee geschmolzen, die weiße Pracht hatte graue Flecken bekommen, und die Sonne begann hartnäckig am Schneeteppich zu nagen. Das Auto stand nicht mehr auf dem verschneiten Parkplatz, sondern plötzlich auf einem Felsbrocken. Gestrandet wie ein unglücklicher Wal auf einer Sandbank. Der Riesenstein war zweifellos schon immer dort, nur hatten wir ihn nicht gesehen. Und darauf hingewiesen hatten uns diejenigen, die ihn seit Generationen rechts der Haustürtreppe kannten, auch nicht. Es ist halt keinem in den Sinn gekommen, dass ein deutscher SUV sich an ihm abzuarbeiten hätte! Die Dorfgemeinschaft hievte uns mit dem Traktor und Muskelkraft herunter (schenkte sich das „Ha-Ha“ von wegen Geländetauglichkeit) und bereichert aber auch erleichtert machten wir uns auf den Weg talwärts. Wir hatten eine gewaltige Dosis Schönes abbekommen, aber nun war es genug. Wir dankten St. Antönien und sagten: „Sche ischs gsi“!
Gemischtgedanken
Mit gemischten Gefühlen lese ich inmitten der Corona-Weltuntergangsstimmung beim „Aufräumen“ meinen damaligen Bericht und sage mir, genau das wäre jetzt das Richtige und genau das möchte ich jetzt nochmal erleben. Ich telefoniere und stelle fest: Andere hatten diesen Gedanken auch schon. Was bislang Geheimtipp und Schnäppchen war, offenbart sich nun als begehrtes Traumziel. „Corona“ hat viele Weichen neu gestellt. Ob’s gut ist, ob’s nachwirkt? Aufgewirbelt hat es auf jeden Fall die Frage, was derzeit sinnvoll ist. Wirbeln ist Bewegung und am Ende gut! Bewegung gab es reichlich in St. Antönien, sehe ich mittlerweile bei meinen Recherchen. Wo einst der Bergbauernhof stand, gibt es jetzt einen Hotelkomplex mit großem Parkplatz. Der Stein mag wohl umgesetzt worden sein. Wer mag abschließend bewerten, ob all diese Bewegungen gewinnbringend sind, und für wen sie gewinnbringend sind. Es ist, wie es ist! Stillstand ist der Tod. „Es bleibt alles anders!“ Die Weissagungen des Herbert. Wie Recht er doch hat!