An die Wand gesprüht

Das Dorf im Dorf

 

 

Warum

... ein kleines Dorf eine große Zukunft haben könnte.

Anlass

Erinnerungen an ein Früher, das abgewandelt heute zum Jetzt werden könnte.

„Nostalgie“ erklärt der Duden wie folgt: „Vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, die man wiederbeleben möchte.“ Es geht also um Hinwendung zu alten Werten und Erlebtem. In meiner Kindheit lebte ich in einem liebens- und lebenswerten „Dorf im Dorf“, ein tradiertes Modell vielfältiger Gemeinschaft, über das heute in politisch groß aufgelegten Projekten aufgeregt neu nachgedacht wird!
Auf dem Weg nachhause

Im Dorfzentrum kaufte man ein – dabei bedeutete das Wort „einkaufen“ noch viel mehr, als sich seinen Korb mit Waren zu befüllen – denn man begegnete sich. Sich „begegnen“ bedeutet, sich zufällig, also nicht verabredet zu treffen, jedoch keineswegs aneinander vorbeizulaufen, weil es gerade nicht passt, oder man wichtig daddelt.

Außen herum im Gürtel um den Dorfkern wohnte man, da standen die gepflegten Häuschen mit Vorgärten. Das Leben an sich fand jedoch entlang der Dorfstraße, der „Chaussee“ (Grenzgebiet zu Frankreich teilt sich mit!) mit ihren bunten Läden, Handwerksbetrieben und Kneipchen statt. Man konnte seine Ruhe haben, wenn das nötig war, man konnte Kontakt haben, wenn dieses Bedürfnis vorhanden war. In einer Zeit, als es noch keine Discounterschwemme gab, man seine Besorgungen fußläufig machte und die Zeit für einen Tratsch nicht fehlte! Der Umgang miteinander war zutiefst menschlich und nicht, chronischem Zeitmangel geschuldet, oberflächlich und schnelllebig. In den Auslagen der Lädchen, aufgebaut in Körben und Steigen über dem Bordstein, mangelte es an nichts, wenngleich die Fülle der Auslagen nicht unsinnig überbordend war. Was der eine Laden nicht feilbot, das hatte der nächste im Sortiment. Ein launiges Schwätzchen über die Theke, kleine Plaudereien unterwegs, beschwingtes Winken nach gegenüber auf die andere Straßenseite. Man nahm Notiz voneinander, registrierte, dass der andere lebte, und wie es ihm ging.

Den Zopf verdreschen

Frische Brötchen beim Bäcker

Des Morgens ging es zuerst zum Bäcker, denn waren die knusprigen Brötchen vergriffen, war der Start in den Tag belastet. Es gab Milchbrötchen, Wasserbrötchen und Doppelwecken – Ende der Liste. Für den Samstag bestellte man goldenes „Flûte“, lang gezogenes Stangenweißbrot, das aus Frankreich stammt. Außen musste es sehr knusprig sein, dabei nicht zu dunkel, in der Farbe keineswegs deutlich über das „Goldene“ hinaus, niemals milchkaffeebraun! Die Krume war großporig, geschmeidig und etwas feucht, auf keinen Fall zu trocken. Für die nachmittägliche Kaffeestunde orderte man einen geflochtenen, in diesem Fall gut gebräunten Hefekuchen mit Mandelblättchen und etwas Zuckerguss aufgeklebt. Es gab die längliche Form, den „Zopf“ oder die runde Form, den „Kranz“. Ich stand auf den Kranz mit drei saftigen Strängen, den mich meine Oma zu flechten lehrte, nicht ohne die Teigstränge zunächst heftig zu verprügeln! „Da muss Luft reingeschlagen werden! Hau den Lukas!“ Omi kicherte und gab alles!

Kuchen mit Lochmuster

Der Abwechslung halber bestellte man sich gelegentlich einen Streuselkuchen vom Blech mit üppigen, buttrigen Krümeln obendrauf. Und das allerbeste, das man bis dato besser in der gesamten Republik nicht bekommen kann, ist: Butterkuchen. Ein luftiges Gespinst, bestehend aus Mehl, Hefe, Zucker, Mandeln und sehr viel Butter! In den aufgegangenen Kuchen drückt der Bäcker (zahlreiche!) Löcher und bestückt diese mit nicht zu klein dimensionierten (sehr kalten!) Butterflocken. Diese zerlaufen während des Backvorgangs in ihren Mulden und geben dem im Grunde recht simplen Backwerk eine umwerfende Raffinesse, weil es nach oben hin karamellisiert! Ein nicht wegzudenkender Bestandteil meines Lebens, den es gottlob auch außerhalb des vor dem Erlöschen stehenden „Dorfes im Dorf“ noch gibt, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch weiterhin geben wird!

Ein Leben ohne Lyoner ...

Rentrisch, Gasthaus Schwarz (Foto: rentrisch.de)

Auf Brot und Frühstücksbrötchen musste dann ja aber noch ein Belag, denn sonst wäre es nur die halbe Freude. Der Metzger für den besten Belag „ever“, die „Metzjersch“ genannte Familie, wurstete in vierter Generation und bot vom Saftschinken bis zur zartgeräucherten Leberwurst Meisterliches an. Zweimal in der Woche trieben sie eine Sau, zwar nicht durchs Dorf, sondern vom hölzernen Viehwagenhänger in die Wurstküche. Wegen der „Hausmacher“ und der Bratwurst am laufenden Meter kamen die Kunden von weit her. Beim regelmäßigen „Schlachtfest“ drohte der Laden zu bersten! Ach ja, und nicht fehlen durfte die Fleischwurst im Ring, die „Lyoner“ heißt und in einfach jedem saarländischen Kühlschrank vorgehalten wird. Damit die Kleinen es gleich richtig ins Blut bekommen, wird „in de Metz“ immer (!) ein Stückchen Lyoner gepellt und über die Theke in kleine, beherzt zugreifende Patschhände gereicht. Ich sah, dass ein vegetarischer Vater mit sich rang, ob er es dem Spross erlauben sollte. Der Kleine streckte die Hand schließlich nicht aus. Ich esse heute wenig Fleisch, kaum Wurst. Eine Kindheit ohne Lyoner musste ich glücklicherweise nicht erleben! Wie war das mit Loriot, seinen Möpsen und der Sinnlosigkeit des Seins?

Kolonialwaren en gros

Bohnerwachs

Der Gemischtwarenladen hielt vor, was man sonst noch so brauchte, außer „Weck und Worscht“. Wo haben wir eigentlich im Dorf den „Wein“ zu „Weck und Worscht“ gekauft? Ich erinnere mich: Der wurde von Winzern nachhause geliefert! Umzingelt von Saar, Mosel, Nahe, Elsass und Pfalz stellte das kein Problem dar! Praktischerweise hatten wir es auch immer mit Literpullen und Pfandgut zu tun.

Waschmittelreklame

Außer Wein hatte der Universalladen von Waschpulver und Zahnpasta bis zu Orangen und Kopfsalat und von Hansaplast bis Toilettenpapier alles da. Und „Enablitz“-Herdreinigungsmilch (und wieder der Duft!) nebst „Abrazo“-Metalltopfreinigern gab es auch. Ach ja, und Bohnerwachs, um Dielen und Treppenstufen zu wienern, samt samtener Tücher fürs Hochglanz-Polieren. Dieses Sondersortiment war von den alltäglichen Lebensmitteln in einem kleinen, rechts angrenzenden, teilweise durch ein Sprossenglasfenster abgegrenzten Raum separiert. Ich werde diesen Duft nach Reinigungsmitteln, Schuhcrème und Waschpulver nie vergessen. Gerüche und Düfte besetzen unsere Erinnerung wie kaum etwas Anderes!

News-Updates beim Frisör

Kamm und Schere

Da gab es noch andere wichtige Anlaufstellen im „Dorf im Dorf“, zum Beispiel die Poststelle vom Roth Karl. Dort gab man ein Päckchen auf und kaufte Briefmarken. Auch hier wieder der typische Geruch nach Kleber und nach Pappkarton! Auch ein Hauch von pflegendem Frisierspray aus dem Puff-Portionierer (oder wie hieß das Gerät genau?) waberte durch offene Türen. Viele hoben sich am Monatsersten die Rente ab – ich denke, auch Geld hat einen bestimmten Geruch – und ließen sich bei dieser Gelegenheit frisieren. Nebenan führten nämlich Frau und Tochter Roth einen Frisörsalon für Damen und Herren. Letztere wurden vom Roth Karl frisiert und rasiert, wenn in der Post das Türglöckchen still war. Herren mit sauberem Messerschnitt und Damen mit aufgebauschten Lockentollen – in den Achtzigern gerne asymmetrisch – verließen den Frisör in der Gewissheit, nicht nur gepflegt, sondern auch bestens informiert zu sein.

Es gab zwei Reinigungen, zwei Schuster, einer davon mit Schlüsseldienst und zwei Schreinereien. Die Ehebetten, die sich Hochzeiter dort geordert hatten, waren fürs Leben, dort haben sie die Kinder gemacht, die „Freck“ kuriert und sind in ihnen gestorben. Und war das Leben zu Ende, kamen die Kisten für die letzte Ruhe ebenfalls vom Dorfschreiner. Bestechend bis skurril scheint mir die Idee, man hätte die Kisten abschließend aus den Betten gebaut. Upcycling mit Sinn. Dazu komme ich gleich noch!

Beim Maier Schorsch konnte man einen Ölofen, ein Tafelservice oder einen Besteckkasten bekommen. Aber auch einen Dosenöffner oder eine abwaschbare Tischdecke aus Wachstuch auf Maß. Nebenan betrieb er die Gesenkschmiede vom Vater Schorsch und die Geräusche des unbarmherzig niedersausenden Dampfhammers waren im ganzen Dorf zu hören. Zuerst eine Art Zischen „schü“ dann ein lautes „gong“. Zum Schluss ein „pff“. „Schügongpff“, „Schügongpff“ von morgens bis abends.

Zwischen halb eins und drei Uhr mittags war Ruhe.

Eine Zigarre verpassen

Im Laden vom Trompeter Bert kauften sich die Raucher ihre Zigaretten oder lose, dicke Stumpen, Fehlfarben, und gaben ihren Tippschein ab. Im Kassenhäuschen der Tankstelle nebenan herrschte geselliges Treiben. Die gehörte auch dem Bert und der war einem Schlückchen nicht abgeneigt. Stets trug er ein Lächeln auf dem purpurroten Gesicht und lud die Kunden zum Verweilen ein. Das eine oder andere Bierchen verzischten sie miteinander, der Weg nachhause war ja nicht weit. Und der Dorfpolizist zischte gerne mit. Es gab eine Volksbank und eine Sparkasse, wo die Kinder am Weltspartag stolz ihre Schweinchen zum Zerdeppern hintrugen und umgehend neue geschenkt bekamen.

Zehn Kneipen für ein Dorf

Bierausschank

In zehn Wirtschaften tobte das Leben und an den Stammtischen löste man die Probleme der Welt unbeirrt mit geballter Weisheit. Es gab ein Gasthaus mit großem Saal, in dem krachend Fastnacht gefeiert wurde, und etwas entlegen am Talende war eine gemütliche Beize mit angeschlossener Bundeskegelbahn, in der das Bier in Strömen floss! Im feinen Restaurant von Rudi Quirin kamen sie fast jeden Samstag von überall her, um Hochzeit zu feiern, und man sah Kinder stehen, die unbedingt die Braut in Weiß sehen wollten. So oft stand ich mit im Pulk und bewunderte die schönen Bräute mit ihren tuffigen Kleidern und kunstvoll aufgesteckten Frisuren!

Die Wege vom einen zum anderen Lädchen entlang der „Chaussee“ waren unterm Strich nicht länger als die mäandernden Gänge im nächsten Supermarkt. Dennoch haben es mit den Jahren immer weniger der Einwohner geschätzt, im Ort einzukaufen. Wer damals schon motorisiert war, beschaffte sich seine Einkäufe in der Stadt. Man konnte bequem parken, hatte alles an einer Stelle, und so ersetzte der wöchentliche Einkauf, bei uns am Freitagnachmittag, den täglichen Dorfbummel. Keine Kunden, keine Läden. Die nächste Generation sah keine Perspektive und machte nicht mehr mit im Familienbetrieb. Nun hatte man nicht mehr die Wahl und musste zum Einkaufen fahren. Und weil die Leute nicht mehr regelmäßig in die „Wirtschaft“ gingen und lieber vorm Fernseher abhingen, begannen die Geschäfte auch in der Gastronomie zu schwächeln und die Pforten wurden nach und nach geschlossen. Im Dorf ließ es sich zwar noch immer gut wohnen, die Lebensqualität allerdings hatte gelitten. Die Beschreibung dieses quicklebendigen Dorfbildes ist keineswegs frei erfunden, sondern in meiner Erinnerung unlöschbar vorhanden.

Reset?

Was wäre denn, wenn man die Zeit ein kleines Stück zurückdrehte und gemeinsam einen kleinen Dorfladen stemmen könnte? Da würde auch die „Lissi“ noch gebraucht, die ihre Schaufenster kürzlich als Letzte zugemauert hat. Warum nicht Selbstgemachtes anbieten, vielleicht könnte ja der Sohn, ebenfalls schon im Ruhestand, weiterhin Brot backen? Nicht morgens um vier, sondern erst für mittags um vier, stressfrei. Die Kunden würden sich dran gewöhnen. Warum nicht mit Bauern kooperieren, die „Gelbe Band“-Initiative nutzen und aus Streuobst was machen? Man könnte gegenseitig tauschen, was noch gut und noch brauchbar ist, das kommt gerade in Mode. Und die Männer, die noch fit sind und Spaß am Handwerk haben, würden im Lädchen auf einer Bank beisammensitzen, einen Kaffee trinken – später am Tage auch gerne einen Dämmerschoppen – und Dinge reparieren, oder „Upcycling-Ideen“ umsetzen mit Gegenständen, die noch zu gebrauchen und zu schade für den Müll sind. Es muss ja der guten Laune wegen nicht unbedingt vor aller Augen besagte „Kiste“ sein! Gemeinsamkeit würde wiederbelebt, nicht nur beim Einkaufen. Einen „heben“ könnte man, miteinander reden, wissen, was die anderen so umtreibt, sich austauschen, sich helfen, Pläne schmieden. Man könnte dem Dorf wieder die Seele einhauchen. Nicht nur wohnen würde man dann dort, sondern im „Dorf im Dorf“ gemeinsam leben, und der Sinn einer Dorfgemeinschaft kehrte zurück!

Man könnte Glück säen und ernten!

 

Zurück