An die Wand gesprüht

Corona-Dementoren

 

 

Warum

... die „Corona-Krise” für mich eine Chance ist.

Anlass

Das Stichwort, das vermutlich für immer mit 2020 verbunden sein wird.

Ich bilanziere, was das Corona-Virus bislang mit mir gemacht hat, und stelle fest, dass sich Harry Potter in mein Leben zurückmeldet. Sein Kampf gegen die Leere kam mir in den Sinn, denn ich konstatierte bestürzt, dass mir Kraft abgesaugt wurde und meine Energie langsam versickert! „Dementoren“ sind wohl am Werk, denke ich, wohl wissend, dass Viren keine zielgerichteten, zerstörerischen Aktionen ausführen. J. K. Rowlings „Dementoren“ entziehen mentale Kraft. Die „Corona-Dementoren“ rauben nicht nur Energie, sondern bestellen das Feld der Unsicherheit. Eine Atem raubende Wirkkombination.
Corona-Dementor

Mein Unterbewusstsein muss den Griff zu den Potter-Bänden im Bücherregal gesteuert haben, denn der Vergleich zu den abscheulichen Energie-Vampiren könnte besser nicht passen. Zwar haben wir es nicht mit in Kapuzenmänteln gehüllte Gestalten mit schleimigen Fingern zu tun. Winzige Kügelchen, bewehrt mit zahlreichen agilen Andockstacheln (Spikes), verbreiten allerdings ebenfalls eine „klamme Kälte um uns“. Gefahr droht. Kopf und Bauch vermelden diese im Gleichklang. Wir verstehen, dass da etwas ist, doch können wir es nicht sehen, nicht orten.

Chinesische Schriftzeichen für Krise

Meine Vorgehensweise im Krisenfall ist es, an der Situation zu wachsen. Dabei bestärkt mich ein Zitat, das John F. Kennedy zugeschrieben wird:

Das Wort Krise setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen. Das eine bedeutet „Gefahr“ und das andere „Gelegenheit.“

Entscheidungs-Marathon

„Covid 19“ hat mich bislang nicht heimgesucht. An mir zehrt vielmehr, „Corona im Kopf und in der Seele“. Die allermeisten, bislang alltäglichen Aktivitäten habe ich nach und nach auf den Prüfstand gestellt. Den Friseurbesuch habe ich so lange verschoben, bis ich kurz davor war, im Haus die Spiegel abzuhängen. Die Reparatur eines Stückchens im März abgebrochener Zahnfüllung musste bis in den September warten, für mich ein Novum, denn meine Zähne sind mir heilig! Das Fitness-Studio habe ich aus Angst vor herumwabernden Aerosolen bis heute nicht mehr von innen gesehen. Zögerlich besuchten wir, als uns die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, Biergärten und Restaurants mit Außenbereich.

 

Als wir im Juli – schon damals war keine Entwarnung in Sicht – die Teilnahme an einer Familienfeier absagten, die in einem nicht gut zu belüftendem Raum stattfinden sollte, ernteten wir Unverständnis. Ich fühlte mich mies und als „überängstlich“ abgestempelt. In den folgenden Wochen sprach das durch Familienfeiern befeuerte Infektionsgeschehen jedoch eine deutliche Sprache. Auf die Dauer zermürbt es mich, über drohendes Ungemach an allen Ecken nachzudenken, denn trifft der im Leben stehende Mensch normalerweise täglich ungefähr 20.000 Entscheidungen, fühlt es sich mittlerweile nach Millionen an. Die Frage, was zu tun ist oder nicht, saugt enorm viel Kraft.

Emotionskiller

Über Aerosole wissen wir inzwischen vieles, doch längst nicht alles und auch in der Potter-Erzählung gibt es Uneinigkeit über die Wirkweise der von mir als Vergleich herangezogenen Emotionskiller. Man denkt darüber nach, ob sie eher über dem Boden schweben oder sich auch in der Höhe des Raumes verbreiten. Auch ist nicht klar, wie sie sich bewegen und ob sie gar schnell fliegen können. Ob sie Körperkontakt benötigen, um ihren „Kuss“ – die endgültige Durchdringung und Initialisierung des Infekts – durchzuführen, steht nicht abschließend fest. Nun ist in unserem vorübergehenden Alltag ohnehin Abstand das Mittel der Wahl und das Küssen von Unbekannten eher selten geworden 😪. Fest steht also, dass es, anders als bei Harry, an uns liegt, die Verbreitung der Infektion mit einfachen Verhaltensregeln deutlich zu mindern.

Einzelhaft

Fenster mit Laden und Geranien

Unterschätzt habe ich, was das Separieren und fehlender sozialer Kontakt mit anderen Menschen in mir auslösen sollte. Wie ich von vielen Menschen weiß, empfinden sie ähnlich. Versuche ich, die schleichende Entwicklung in Worte zu fassen, nimmt das Bild eines Schattens Kontur an, und wieder meldet sich Potter in meinen Gedanken: „Dementoren machen nach und nach alles düster.“ Ich habe beobachtet, wie meine Lebensfreude „gedämpft“ wurde. Eine mich ermüdende Trägheit griff sich Raum. Ich saß kraftlos im Home-Office oder dümpelte auf Balkon und Terrasse vor mich hin und empfand die – früher am Wochenende oder im Urlaub genossene – Distanz zu Alltag und Routine längst nicht mehr als angenehm. Bei J. K. Rowling heißt es in einer Zeugenaussage nach einem Dementoren-Angriff auf Potter: „Sie konnte optische Details des Vorfalls nicht richtig wiedergeben, aber genau beschreiben, welche Empfindungen die Dementoren bei ihr ausgelöst haben.“ Langsam grusele ich mich, denn wie kann die Autorin Jahre im Voraus Ereignisse und Auswirkungen (in mir?) so treffend beschreiben?

Leere Stühle auf leeren Plätzen

Unter einer Linde sitzen

Im „Corona-Alltag“ hört man viele Klagen. Der Liebste spricht unverblümt von „Weicheiern“, als die gefühlte Atemnot hinter Masken zum Dauerthema wird. Von Geschichten frustrierter Reiserückkehrer, die es als störend empfanden, dass man überall reservieren und sich mit Abstand in Schlangen aufstellen musste, hatte ich schnell die Nase voll. Ich kann es nicht als weltbewegend einstufen, dass in Hotels nun im Schichtbetrieb gefrühstückt und gedinnert wird. Dass die zugeteilten Zeitfenster aufs Gemüt drücken, erscheint mir als Luxus-Nörgeln.

Mit dem Jammern nicht genug, äußert sich der Unmut auf den Straßen. Sicher, es gibt berechtigten Protest von denjenigen, die Schließungen an den Rand oder Abgrund ihrer Existenzen gebracht haben. Als die Gastronomie leere Stühle auf Plätze stellte, war dies eine stille Demonstration, die nachdenklich und betroffen machte.

Auf Geleisen ohne Schienen

Viele treibt es jedoch gar nicht still und friedlich in Protestzüge, weil sie nicht in der Lage sind oder es nicht wollen, sich Situationen anzupassen, die sie für einen bestimmten Zeitraum einschränken. Oder weil die Gelegenheit günstig ist, Verschwörungstheorien, braunes Gedankengut und sonstige Abstrusitäten hinauszuposaunen, vereinfacht ausgedrückt, gegen „alles“ zu sein oder den Staat unterminieren zu wollen. Nach meiner Einschätzung eine inhomogene Gruppe mit vagen Zielen. Einerseits Staat und Gesellschaft unterwandernde, kalkulierend Zündelnde, andererseits im Gleichschritt mitlaufende, schlicht Unbedachte oder Irre. Allesamt attackierende Aktivisten – Seite an Seite mit Brandstiftern. Einige der Demonstrierenden mag auch Verzweiflung tragen, weil sie ihrer Ängste nicht Herr werden.

Die Potter-Story sagt: „Die Macht der »Dementoren« liegt unter anderem darin, dass von Ihnen Befallene glauben, nie wieder glücklich sein zu können.“ Das macht Angst und nährt Aggression. „Antihaltung“ und Gewalt gewinnen Oberhand. Die Absenz von Reflektiertheit, gepaart mit krawalligen Pöbeleien war jedoch zu keiner Zeit probates Mittel. Austausch auf Augenhöhe hilft mir persönlich weiter, denn in diesen „guten“ Gesprächen stelle ich fest, dass ich mit all meinen Fragestellungen und Reflexionen auf das Wahrgenommene nicht allein bin.

 

Lernen, langsam zu verstehen

Den Verlauf der Pandemie zu verstehen und ihr Wesen zu analysieren ist, wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Je mehr man in einer Situation der tausend Fragezeichen versucht, aus Fakten und persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen Antworten zu finden und dabei weit gehend auf sich selbst angewiesen ist, desto komplizierter wird die Einordnung der Gesamtsituation. Bilder in den Medien stehen teilweise nicht im Einklang mit dem Selbst-Wahrgenommenen. Wo Informationen sich im Eilschritt abwechseln, sich teilweise konterkarieren oder widersprechen, tut sich Raum für Interpretationen auf. Was genau los ist, weiß niemand. Den Königsweg wird es wohl nicht geben.

Weit entfernt von Verschwörungstheorien liefert die Potter-Literatur eine mehr als plakative Bebilderung: „Der klamme Nebel, der ihre Anwesenheit (der Dementoren) anzeigt, verbreitet überall eine unangenehme feuchte Kälte, die für die Sommerzeit völlig untypisch ist. Er verrät, dass die Dementoren brüten.“ Was ich an dieser Stelle für „Potter-Unkundige“ vorausschicken möchte, ist die Möglichkeit, Dementoren dennoch zu besiegen.

Schiefertafel auf einem Tisch

Komprimiert im Schulbus vs. Masken im Schulzimmer

Wissenschaft und Politik fragen sich inzwischen, ob Schließungen von Restaurants oder Friseurläden überhaupt notwendig waren. Bilder von überfüllten Nahverkehrsmitteln und Schulbussen, von zusammengepferchten Schulklassen und von Urlaubern, Feiernden, Protestierenden und generell Menschen, die keinerlei Abstandsregeln einhalten, überfluten uns. Wir hören, dass tausende sich zu nächtlichen Partys treffen, dass sich in Fußgängerzonen, an Flussufern und Stränden Menschen dicht an dicht aufhalten. Ich selbst beobachte, dass „Busserl“-Begrüßungen äußerst lässig zelebriert werden, als gäbe es Corona nicht. Diese realen Beobachtungen können fatal in ihrer Wirkung sein.

Beginnen sich die „Vernünftigen“ nun zu fragen, ob sie nicht doch zu zurückhaltend waren und sich vieles unnötigerweise versagt haben? Im Gegensatz zu klagenden Reiserückkehrern posaunen andere siegesbewusst in die Welt, wie schön es gewesen sei, entspannt und easy, schließlich sei nichts passiert unterm Strich. So beginne auch ich, mich ob meiner Regeltreue langsam als Verlierer oder „Pandemie-Depp“ zu fühlen. Die Fragezeichen in meinem Kopf mehren sich. Ich finde die Vorsichtsmaßnahmen, die unsere Politiker getroffen haben, völlig richtig, denn am Anfang wussten sie nicht viel und hatten die Aufgabe, uns und die Gesundheitssysteme so gut wie möglich zu schützen. Klar ist schon jetzt, dass „danach“ alle klüger sein und wissen werden, was man vorher ihrer Meinung nach auch schon hätte wissen können. Einer meiner persönlichen Pandemie-Flash-Aussagen kam von Ruprecht Polenz:

Mit den Kenntnissen von Montag hätte ich meinen Lottoschein auch anders ausgefüllt.

Die Schlussrechnung folgt noch

Harry Potter ist dem Schlimmsten, dem „Dementoren-Kuss“ nur knapp entkommen. Er wendete den „Patronus-Zauber“ an. Es handelt sich um eine schwer zu erlernende Praktik, die positive Energien durch ein Schutzwesen aktiviert – Harry übt sich dem Vernehmen nach daran, seit er dreizehn ist. Der Erfolg des Zaubers setzt sich demnach daraus zusammen, ein glückliches Ereignis zu visualisieren und sodann die probate Formel auszusprechen. Wer die Kunst dieses Zaubers beherrscht, schafft es rechtzeitig, den Dementoren Widerstand zu bieten. Bereits geschädigte Opfer genesen im Übrigen durch Genuss von Schokolade 😋.

Taschenrechner

Ich bin der festen Meinung, die Corona-Bilanz wird uns diverse, bislang Unbekannte im „Soll“ bescheren. An dieser Stelle von meiner Seite durchaus eine anerkennende Verneigung an das Wesen der Dementoren, denn man kann sich an ihnen üben. Das „Haben“ wird am Ende die rechte Seite der Waage stark mit Erkenntnissen und neuem Wissen bereichern. Corona ist eine vorübergehende, missliche Sachlage, über deren Verlauf und Ausgang wir selbst entscheiden, da wir die Macht dazu haben. Macht ist definiert als Gesamtheit der Mittel und Kräfte, die zur Verfügung stehen, um ein Ereignis in seinen Auswirkungen zu verändern. Demnach steht Macht für Einfluss.

Patronuszauber gegen Corona

Auch wenn uns keine gute Botschaften überbringenden Eulen zur Seite stehen, können wir uns auf den weisen Dumbledore und seinen Phoenix besinnen und auf unsere Wissenschaftler vertrauen, die daran arbeiten, einen Impfstoff und mehr zu entwickeln. Orientieren wir uns bis dahin an Harry Potter und kultivieren unser persönliches „Expecto Patronum!“. „Gott helfe uns!“ zu rufen, wäre die alternative christliche Vorgehensweise. Aus welcher Geisteshaltung man auch kommt, Herausforderungen bieten die Möglichkeit, an ihnen zu wachsen! Wir haben es in der Hand, dafür zu sorgen, den Dementoren in die Parade zu fahren und das Virus ein gutes Stück weit kaltzustellen!

Es sind nicht unsere Fähigkeiten, die zeigen, wer wir sind – sondern unsere Entscheidungen.

Albus Dumbledore in: Harry Potter und die Kammer des Schreckens

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